"Innovation & Identity" Die Beziehung zwischen Mensch und Produkt gestalten

Mehr als 1.800 Architekten und Inneneinrichter aus über 70 Ländern kamen anlässlich des World Architecture Festival vom 28. bis zum 30. November nach Amsterdam – um sich auszutauschen, voneinander zu lernen und um sich inspirieren zu lassen. Ca. 650 internationale Architektur-Projekte wurden vor Ort präsentiert, 39 davon erhielten eine Auszeichnung. Zum vielfältigen Festival-Programm zählten Abendevents zum Netzwerken ebenso wie Vorträge von hochkarätigen Referenten und Architekten.

Am zweiten Festivaltag diskutierten Andreas Enslin, Leiter des Design Centers bei Miele und Nicola Leonardi, Herausgeber des englischen Architekturmagazins THE PLAN unter der Moderation von Bob Sheil, Direktor der Bartlett School of Architecture in London zum Thema „Innovation & Identity“. Eine der zentralen Fragen des Podiums: Welchen Stellenwert hat Design im Kontext von Innovation und Identität? Für Andreas Enslin bleibt das Produkt hierbei der wichtigste Markenbotschafter.

Herr Enslin, das Thema der Podiumsdiskussion auf dem World Architecture Festival war „Innovation & Identität“. Welche Rolle hat Design in diesem Kontext?

Für Miele hat Design die Aufgabe, die Identität der Marke in vom Nutzer wahrnehmbare und identifizierbare Elemente zu übertragen. Dazu zählt zum Beispiel die typische Formensprache oder ein typisches Bedienkonzept. Die Herausforderung ist, innovativ zu bleiben, sich kontinuierlich zu entwickeln und dabei gleichzeitig einen unverwechselbaren Charakter zu prägen. Es geht also um die gezielte und konsistente Entwicklung aller wahrnehmbaren Design-Elemente über die Zeit hinweg.

Keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass die Entwicklung von neuen Produkten bis zu zehn Jahre dauern kann. Wie schaffen Sie es da, zukünftige Nutzungsszenarien und Kundenbedürfnisse vorauszudenken?

Bei innovativen Ideen ist das richtige Timing entscheidend. Wenn Veränderungen zu schnell oder zu langsam umgesetzt werden, besteht die Gefahr, den Kontakt zum Kunden zu verlieren. Zentral ist, dass wir heute keine Geräte gestalten, sondern die Beziehung zwischen Produkt und Nutzer. Produktdesign ist demnach ein Resultat des Verständnisses, welche Erwartungen Kunden an ein Produkt haben. Und diese werden maßgeblich durch Veränderungen in der Gesellschaft – zum Beispiel Urbanisierung oder Digitalisierung – getrieben. Design Thinking, Research und Workshops mit Kunden und auch Architekten helfen uns dabei, zukünftige Anforderungen und Kundenbedürfnisse aufzuspüren und in Design-Roadmaps für 2020 und 2030 sprichwörtlich greifbar zu machen.

Hat sich dieser Innovationsprozess, bzw. die Design- und Produktentwicklung durch die digitale Transformation in den letzten zehn Jahren spürbar verändert?

Auf jeden Fall. Eine der wichtigsten Errungenschaften ist die enorme Freiheit, die wir im Laufe der letzten Dekade durch die Digitalisierung im Industrial Design erlangt haben. Besonders die 3D CAD Systeme, die Möglichkeit sehr schnell Bilder aus Daten zu erzeugen und dann diese Daten z.B. an eine Rapid Prototyping Maschine zu senden, haben die Möglichkeiten im Produktdesign vervielfacht. Chronologische Prinzipien sind weitestgehend außer Kraft gesetzt, es gibt kein „Nacheinander“ mehr. Vielmehr werden heute einzelne Komponenten parallel erarbeitet. Ich beginne beispielsweise viele Projekte gleichzeitig, ohne dass diese direkt in den Produktionsprozess übergehen. Diese prozesshafte Veränderung ist ein Geschenk, aber auch eine Herausforderung, denn mit ihr haben sich Methodik und Zusammenarbeit grundlegend gewandelt.

Wie wirkt sich diese digitale Entwicklung auf die Entscheidungsfindung aus? Ist dieser Vorgang heute komplexer als früher?

Entscheidungen zu treffen hat immer auch mit Mut zu tun. Selten sind wirklich alle Daten und Fakten bekannt, es bleibt also immer ein Risiko. Früher waren Entwicklungen einfach langsamer – bei einer falschen Entscheidung gab es meistens die Möglichkeit, sich noch einmal zu korrigieren. Aufgrund der starken Verschmelzung der Prozesse funktioniert dies heute nicht mehr. Wenn zum Beispiel zwischen CAD Datensatz und Fertigungsmaschine ein direkter Datenaustausch stattfindet, gibt es niemanden mehr, der die Maschine anhält. Jeder Fehler wird gnadenlos mit hoher Effizienz in Stahl gefräst. Trotzdem ist es enorm wichtig, Entscheidungsgewalt abzugeben und Vertrauen in die Beteiligten zu haben, die die Projekte umsetzen. Dazu muss man aber die Einzelnen in einem Team auch befähigen. Dann ergibt sich eine ganz neue Art der Zusammenarbeit.

Und mit Blick auf Produktinnovationen? Welche Rolle spielt hier die Digitalisierung?

Die Digitalisierung führt dazu, dass Herausforderungen oftmals nur über einen rein technischen Lösungsansatz in Angriff genommen werden. Das reicht jedoch nicht aus, um Menschen abzuholen und zu begeistern. Dafür muss ich ihre Bedürfnisse kennen. Kann ich etwas anbieten, was sie entlastet und bestärkt? Etwas, das ihnen Freude macht? Wie schaffe ich es, dass Nutzer eine starke Bindung zum Produkt und zur Marke aufbauen? Das ist wichtig – gerade auch im Sinne der Ressourcenschonung. Ungeliebte Produkte werden schnell ausgemustert, selbst wenn sie noch funktionieren. Ich glaube fast jeder kennt diese Momente. Wer hatte nicht schon Kleidungsstücke im Schrank, die nie getragen und deshalb ganz hinten im Schrank bis zur nächsten Entrümpelung aufbewahrt wurden? Und schließlich wurde das Stück mit schlechtem Gewissen doch entsorgt oder zumindest gespendet. Wenn wir es aber schaffen, dass Menschen eine emotionale Beziehung zu etwas aufbauen, so dass sie sagen: Auf dieses Produkt habe ich gewartet, das möchte ich nicht mehr hergeben – so etwas wie den Lieblingspullover also – dann wird dieses Produkt auch sorgfältig behandelt. Und Reparaturen daran selbstverständlich, da ich es ja behalten möchte. In diesem Sinn hat Bindung und Beziehung im Design ein enormes Potenzial, verantwortungsvoll mit den Ressourcen dieser Erde umzugehen.

Umwelt- und Ressourcenschutz ist auch eines der wesentlichen Zukunftsthemen, die das World Architecture Festival in dem Manifest anlässlich ihres 10. Jubiläums identifiziert hat. Stehen Architektur und Industrial Design letztlich vor den gleichen Herausforderungen?

Die vordringlichen gesellschaftlichen Themen sind in der Architektur die gleichen wie im Design. In unserer Industrie wird der Zusammenhang schon durch den Begriff „Hausgerät“ deutlich. Zuerst kommt das Haus, dann das Gerät. Wir fangen da an, wo die Architektur ihre Verantwortung an die Bewohner bzw. Nutzer abgibt und das Leben einzieht. Was wir im Industrial Design leisten müssen, ist einen Kontext zur Architektur herzustellen, der es uns ermöglicht, auch in fünf bis zehn Jahren – wenn die neuen Projekte bezogen werden – mit dem richtigen Produkt dafür am Markt zu sein. Ein schönes Beispiel, in dem dies gelungen ist, sind die kleineren Wohnungen im urbanen Umfeld und die neuen offenen Küchen darin. Hierfür hatten wir rechtzeitig Produkte, wie unsere ins Kochfeld integrierten Dunstabzugshauben, die eine wunderbare Lösung für die Anforderung nach Ruhe und Wohnlichkeit sind. Das zu leisten wird zunehmend eine Herausforderung, denn es entstehen in immer rasanterer Abfolge neue Projekte, Nutzungen, Rituale, Produkte und Werte. Design ist eben nie Routine.

Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Enslin!

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